Kurzgeschichten

Projekt Erlebniswelt

von Bodo Kroll

In Johannes brodelte es. Es sollte auch brodeln, doch das wusste er nicht. Er brauchte ein Weibchen. Er hatte keins. Aber Karl, der Rudelführer, hatte drei.

Johannes konnte das nicht verstehen. Er brauchte wirklich dringend ein Weibchen.

Maja war das dritte Weibchen von Karl. Sie hatte Johannes schon gestern so eigenartig angesehen, doch gestern war Karl da. Heute hatte sie laut gesagt, dass sie zum äußersten Rand der Hochebene, auf der ihr Rudel lebte, Beeren pflücken gehen wollte. Für Johannes war das ein eindeutiges Zeichen.

Er sagte den anderen, dass er Taren jagen würde. Taren waren die hauptsächliche Fleischquelle des Rudels und nicht einfach zu jagen. Tatsächlich suchte Johannes jedoch ein anderes Wild.

Sein nur unzulänglich mit Tarenfellen bekleideter Körper war von Staub und Schmutz verdreckt. Es störte ihn nicht. Alle im Rudel sahen so aus. Seine Haare fielen zottelig herab. Lediglich vor dem Gesicht hatte er sie mit einem der scharfen Messer, die Karl wohl behütete, gekürzt. Sie behinderten ihn sonst bei der Jagd.

Vorsichtig schlich er Maja hinterher, immer in Deckung der hier reichlich wachsenden Seederbäume. Deren weiche, biegsame Zweige mit den scharfen fünfeckigen Blättern schlugen ihm andauernd ins Gesicht. Aber das war Johannes egal. Sorgsam setzte er einen Fuß vor den anderen, immer bedacht auf die grauen Moosflechten zu treten, damit seine Schritte kein verdächtiges Geräusch auf dem sonst so kargen Steingrund erzeugten. Sorgfältig blickte er sich um, doch seine hochangespannten Sinne konnten nur die Geräusche von Maja aufnehmen, die gerade an dem Busch vorbeischlenderte, in dem er sich versteckt hielt. Sie hatte sich aus zwei Tarenfellen ein kurzes Kleid gefertigt. Das Vorder- und Rückenteil waren mit einer Kunstfaser in einem groben Zickzackstich verbunden. Ihre nackte Haut glänzte in der hellen Morgensonne.

Der Anblick ihrer unbekleideten Körperstellen versetzte Johannes endgültig in Glut. Mit schnellen Bewegungen kam er aus dem Busch und schlich sich an Maja heran. Behutsam legte er seine Hände auf ihre Hüften und küsste ihren Hals.

"Johannes", begrüßte sie ihn, ohne sich umzudrehen. "Ich auf dich warten."

Johannes fühlte eine wilde Erregung in sich aufsteigen. Der Geruch ihres Körpers drang in seine Nase. Sein Atem wurde hektisch. Er genoss, wie sie ihren Po gegen seine Lenden drückte. Johannes Hände glitten hinab, um ihre Tarenfelle hochzuschieben.

"Nein!", tönte es plötzlich hinter den beiden. Johannes hörte ein Krachen aus einem neben ihm stehenden Deradedbusch. Aus den Augenwinkeln heraus erkannte er Karl. Ehe er sich auf die neue Situation einstellen konnte, packte ihn Karl mit einer Hand am Rückenteil seines Tarenfells und schleuderte ihn einige Meter durch die Luft. Karl war nicht umsonst der Rudelführer. Seine tarenhaften Kräfte ließen keinen Widerstand in der Gruppe aufkommen.

Johannes war wütend. Zum einen, weil Karl ihn kurz vor der Erfüllung seiner Wünsche unterbrochen hatte, zum anderen, weil er sich hatte erwischen lassen. Jetzt würde er mit Sicherheit eine Abreibung erhalten, die sich gewaschen hatte.

Karl wandte sich Maja zu. Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie, dass ihr kleiner Kopf hin- und herflog.

Johannes erkannte die einmalige Chance. Karl hatte mit seinem Brachialsprung durch den Busch mehrere Äste abgerissen. Im Gegensatz zu den Seederbäumen waren diese Deradedbüsche spröde und sehr hart. Direkt vor Johannes lagen unterarmlage Überreste einer Astgabel. Einem dumpfen Instinkt folgend griff er sich den ihm am nächsten liegenden Knüppel. Ohne weiter darüber nachzudenken, zielte er auf Karls Interfaceplatte, die an der rechten Schläfenseite aus dem Schädel schaute.

Mit all der Kraft, die in seinen durch das wilde Leben gestählten Armen steckte, hieb er zu. Es gab ein knackendes Geräusch. Blut spritzte über Maja, als sich die zerberstenden Teile der Interfaceplatte in Karls Schädel bohrten.

Vom Schwung des Schlages getrieben, drehte sich Karl um seine eigene Achse. Johannes konnte in überrascht blickende, brechende Augen sehen.

Dann kippte Karls schwerer Körper nach hinten und stürzte über die Felskante des Hochplateaus in die Tiefe. Sekundenbruchteile später hörten die beiden, wie er aufschlug. Maja und Johannes schauten sich an. Immer noch hielt Johannes den Knüppel in der Hand. Karls Blut hatte das eine Ende rot gefärbt. Erschrocken ließ Johannes die improvisierte Waffe fallen. Sein Blick ging in die Tiefe. Karls regloser Körper lang auf einer kleinen Felsnase, die ihn vor dem endgültigen Sturz in die Tiefe beschützt hatte. Auf dem blanken Stein wurde sich eine Blutlache sichtbar. Seine Arme und Beine sahen seltsam verrenkt aus.

"Karl ist...", stammelte Maja, die die Situation immer noch nicht erfassen konnte. Ihre Hände griffen ins Leere, als ob sie versuchen würde, Karl vor seinem Sturz zu bewahren. Doch auch Johannes verstand noch nicht, was er eben getan hatte. Dort unten lag Karl, der Rudelführer, der Chef und clevere Beschützer der Familie vor der wilden Natur dieses Hochplateaus. Mit einem Schulterzucken wandte er sich ab.

Maja drängte sich an seine Seite, als ob sie Schutz suchen würde. Ihre hellen Augen blickten zu Johannes auf. Der Tarenjäger wusste, was ihr Blick bedeutete. Behutsam legte er seine Arme um Maja und schob erneut ihre Tarenfelle hoch. Ohne einen weiteren Gedanken an Karl zu verschwenden drehte sie sich um und drückte ihren Po in seine Lenden. Gemeinsam sanken sie zu Boden. Johannes spürte, wie das Blut in seinen Schläfen zu pochen begann. Endlich war er am Ziel seiner Träume. Maja stöhnte unter seinen rhythmischen Bewegungen. Trotz der kühlen Temperatur lief dem Tarenjäger der Schweiß über das Gesicht.

Minuten später ließen sie erschöpft voneinander ab. Sorgfältig strich Maja ihre Tarenfelle zurecht. Dann standen sie auf, als ob nichts gewesen wäre, und gingen Seite an Seite zurück ins Lager des Rudels. Sie hatten vom Tod ihres Rudelführers zu berichten.


Karl kam nur langsam zu sich. Sein Kopf dröhnte entsetzlich. Außerdem hatte er das Gefühl, als ob sein gesamter Körper durch eine Stanzmaschine gelaufen wäre. Seine Hand fuhr tastend an seine Schläfe. Kaum berührten die Finger die offene Wunde, als Karl sie vor Schmerzen wieder zurückzog.

Johannes hatte das Interface, das war die Schnittstelle zu dem zentralen Datenspeicher ihres Schiffes, zerstört. Karl verlor dadurch seinen Datenzugriff. Dies war nicht so schlimm wie die Verletzung, die er durch die Zertrümmerung erlitten hatte. Das Interface war direkt mit verschiedenen Bereichen seines Gehirns vernetzt. Karl hoffte, dass der Schlag nicht zu irreparablen Hirnschäden geführt hatte. Zum Glück hatte er sich bei dem Sturz zumindest keine Brüche zugezogen. Der Schmerz im Schulter- und Rückenbereich zeugte jedoch von einer schweren Prellung.

Der Kommandant der Constellair setzte sich vorsichtig auf. Das Dröhnen in seinem Schädel verstärkte sich. Langsam wurde er sich seiner Situation bewusst. Wieso hatte der Bordingenieur des Schiffes sein Interface mit einem Knüppel zerschlagen?

Seine Gedankengänge liefen immer gezielter ab. Die Genoptimierungen der letzten 200 Jahre hatten den Menschen zu einem fast perfekten Wesen mutieren lassen. Alles, was nicht mehr in sein teildigitalisiertes Gehirn passte, konnte er über die Interfacekommunikation direkt aus den bereitstehenden zentralen Datenbanken abrufen.

Wieso saß er also hier, gekleidet in Wildfelle wie ein Urmensch, auf einem urwüchsigen Planeten und von seinem Ingenieur niedergeschlagen?

Seine optimierte Intelligenz half ihm, die Bruchstücke seiner Erinnerung zu kombinieren. Sie waren auf diesem Planeten gelandet, um ihn als Ferienwelt umzugestalten. An Bord der Constellair waren rund einhundert Spezialisten, die eine absolut risikofreie Erlebniswelt für begüterte Sternenreisende schaffen sollten. Kurz nach der Landung hatte es einen Moment gegeben, der alles veränderte.

Alle Menschen vergaßen ihre Aufgabe, vergaßen ihr angelerntes Wissen und begannen sofort ein Leben als Halbaffen. Karl eruierte die Möglichkeiten. Ein versteckter Krankheitserreger dieses Planeten kam nicht in Frage. Die Voruntersuchungsergebnisse der anderen Explorerschiffe waren absolut zuverlässig. Außerdem hätte in diesem Fall der Schiffsrechner eingegriffen.

Damit stellte sich die nächste Frage: Warum hatte der Computer des Raumschiffes nicht interveniert, als die Menschen begannen hier verrückt zu spielen? Ein derart eklatantes Versagen des Rechners war nach heutigem Entwicklungsstand ausgeschlossen.

Johannes' Hieb auf sein Interface war ein wichtiger Fingerzeig. Seitdem Karls direkte Verbindung zum Schiffsrechner unterbrochen war, vermochte er wieder klar denken.

Konnte der Schiffsrechner über die Interface-Schnittstelle die Besatzung dahingehend beeinflusst haben, wieder zu Wilden zu werden? Und wenn ja, warum hätte er das tun sollen?

Karl war kein Spezialist für künstliche Intelligenz, allerdings wusste auch er, dass Rechner durchaus in der Lage waren, eigene Entscheidungen zu treffen. Doch welchen Sinn hätte eine derartige Veränderung der menschlichen Besatzung für den Rechner?

Immer mehr Bilder seines Lebens als Urmensch tauchten vor seinem geistigem Auge auf. Die Erinnerungen an die Zeit seines reduzierten Verstandes ließen ihn erschauern. Ihm war klar, dass er diese Fragen vorerst noch nicht beantworten konnte. Viel wichtiger war es, die Beeinflussung der Besatzung durch den Rechner zu beenden.

Die Interfaceverbindung war durch Johannes' Schlag unterbrochen worden. Der Computer konnte jetzt nicht mehr prüfen, ob die geistige Konditionierung erloschen war. Es war bestenfalls eine Möglichkeit, die der Rechner wohl mit in Betracht ziehen würde.

Zur Zeit konnte ihn das kybernetische Gehirn nur noch durch die Augen der anderen Besatzungsmitglieder beobachten und beurteilen, sofern wenn er wieder zurück zum Rudel ginge.

Karls Gedanken ordneten sich nach und nach. Sein gentechnisch perfekt gestylter Körper gewann zunehmend an Kraft zurück. Nach kurzem Abgleich der Möglichkeiten fasste er einen Entschluss: Er musste zurück ins Schiff.

"Ich habe den Rechner davon zu überzeugen, dass ich immer noch ein konditionierter Wilder bin", kam es ihm unwillkürlich über die Lippen. Hier auf dem kleinen Felsvorsprung klang seine eigene Stimme seltsam fremd. "Nur so kann ich mich gefahrlos dem Rechner nähern. Schließlich ist mein Interface kaputt. Im Schiff ist eine automatische Klinik. Dort kann ich eine neue Einheit erhalten, und nur dort bin ich in der Lage, gegen den Computer vorzugehen."

Die leise vor sich hin gesprochenen Sätze halfen ihm endgültig seine Gedanken zu sortieren. Mit einem abschätzenden Blick schaute er die Felswand hinauf. Bevor er sich zum Schiff schleppen konnte, musste er erst einmal diese Kletterpartie überleben. Nur vereinzelt boten kleine Grünpflanzen an der steilen Felswand Halt für Hände und Füße. Karl seufzte tief, ihm blieb jedoch keine andere Wahl, als das Risiko des Aufstiegs einzugehen. Vorsichtig, immer mit drei festen Kontakten zum Fels, tastete er sich im Zeitlupentempo die Wand hinauf.


Nach endlosen Minuten - oder waren es Stunden - griff die Hand des Kommandanten über die Abrisskante des Plateaus. Seine Finger bohrten sich in ein saftiges Grasbüschel. Mit einer letzten Kraftanstrengung zog er sich auf die Ebene und rollte auf den Rücken.

Nach einigen tiefen Atemzügen nahm das Dröhnen in seinem Kopf ab. Sein analytischer Verstand begann wieder zu arbeiten. Wie könnte sich Karl, der Rudelführer, am unauffälligsten benehmen, fragte er sich als erstes. Inzwischen hatte er deutliche Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Wochen, doch jetzt wurde er nicht von wilden Urinstinkten, sondern durch einen geschulten Intellekt geführt. Die kleinste Abweichung von den bisher gezeigten Verhaltensweisen würde das Misstrauen der anderen Besatzungsmitglieder und damit auch das des Schiffsrechners erregen.

Sorgfältig bemüht, mit den Resten seiner Interfaceplatte nicht am hohen Gras hängenzubleiben, rollte er sich auf den Bauch, um dann vorsichtig auf die Beine zu kommen. Karl der Rudelführer ging im Gegensatz zum Kommandanten mit hängendem Kopf und vorgeschobenen Schultern, immer bereit, jeden Nebenbuhler sofort anzuspringen.

Jetzt war er aufgrund seiner Verletzung doppelt gefährdet. Jedes andere männliche Besatzungsmitglied könnte die Gelegenheit nutzen, endgültig die Rudelführung zu übernehmen, wenn es ihn umbrächte. Doch auf diesen Gedanken mussten die geistig reduzierten Gehirne der anderen erst kommen.

Folglich hatte Karl schnell zu sein! Am besten erschien es ihm, den anderen männlichen Rudelmitgliedern aus dem Weg zu gehen. Langsam und darauf bedacht, nicht die ausgetretenen Pfade zu benutzen, schlich er zurück zu ihrer steinzeitlichen Siedlung.

Dünne Rauchfäden, die hinter einer dichten Baumgruppe aufstiegen, wiesen auf die Nähe des Lagers hin. Ab jetzt musste der Kommandant vorsichtig sein. Bewusst veränderte er seinen bisherigen aufrechten Gang, schob die Schultern trotz der Schmerzen vor und zog den Kopf ein.

Im Norden des Wäldchens gab es viele Sträucher mit schmackhaften Beeren, die grundsätzlich nur von Frauen gepflückt wurden. Dort war es unwahrscheinlich, auf männliche Besatzungsmitglieder zu treffen.

Langsam schob er sich durch die Beerensträucher. Vor sich entdeckte er eine gebückte schmächtige Gestalt. Dies war zumindest kein Mann. Der Wind kam von West und blies dem Kommandanten damit ins Gesicht. Daher konnte sie keine Witterung von ihm aufnehmen. Völlig auf die Person konzentriert drehte er den Oberkörper, um lautlos zwischen den Büschen

hindurchzukommen. In dieser Sekunde fuhr erneut eine Schmerzwelle durch seinen rechten Arm. Ohne dass er es verhindern konnte, kam ein leises Stöhnen über seine Lippen.

Blitzschnell fuhr sie herum. Es war tatsächlich eine Frau. Der Kommandant erkannte sie, ihr Name war Olga. Sie war die Ortungsoffizierin der dritten Schicht. Hier im Rudel war sie die Partnerin eines Technikers. Mühselig taumelte er ihr entgegen.

"Johannes sagen, du von Erde gefallen. Du tot auf Fels", Olga eilte auf ihren Chef zu und stützte ihn, so gut sie es konnte.

"Ja", erwiderte Karl mit gepresster Stimme. Mit einer Hand hielt er sich an ihrer Schulter fest. Bemüht, die Sprachweise seiner Offizierin zu kopieren, antwortete er ebenfalls nur in unvollständigen Sätzen: "Ich gefallen, ich nicht tot. Ich schlafen. Ich schlafen fertig, kommen zurück. Gottesohr kaputtgegangen", dabei deutete er auf die blutverkrustete Wunde an seiner rechten Schläfe. "Ich schnell zum Tempel, Gottesohr heilen!", fuhr er hektisch fort.

Olga nickte ihm verständnisvoll zu. Für sie war das Interface eine Gabe, die jedes Rudelmitglied über die anderen Wesen des Plateaus erhob.

Der Rechner ließ das Schiff als Tempel verehren. Wieder eine Maßnahme, für die Karl noch keinen Grund fand. Er war neugierig zu erfahren, warum der Computer all diese Dinge veranlasst hatte.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Für Olga gab es nichts Weiteres zu sagen. Ihr künstlich begrenzter Verstand war mit Karls Erklärungen völlig zufrieden gestellt.

Hinter der nächsten Hügelkette stand der Tempel, Karls Constellair. Der grüngelbe Kunststoff der Außenhaut reflektierte die kräftigen Sonnenstrahlen nur unvollkommen. So wirkte das rund zweihundert Meter durchmessende linsenförmige Raumschiff eher wie ein überdimensionaler, schmutziger Felsbrocken.

Über Olgas Interface war der Rechner mit Sicherheit informiert worden. Falls er auf Karls Schauspielerei hereingefallen war, dürfte die automatische Bordklinik bereits auf ihn warten.

Kurz bevor sie das Schiff erreichten, öffnete sich die Polschleuse. Zwei Sanitätsroboter kamen ihnen mit einem beigefarbenen Krankenbett entgegen. Lautlos steuerten es die Roboter mit Hilfe des integrierten Antischwerkraftgenerators zu dem Verletzten. Dankbar legte sich Karl auf das Transportmedium.

"Anderen sagen, Karl schnell wieder da", trug er Olga auf. Dann lehnte er sich zurück. Der Schiffsrechner konnte seine Gedanken nicht lesen. Alle Informationen, die Karl dem Computer zukommen ließ, sollten darauf hindeuten, dass er immer noch konditioniert war und lediglich die übliche medizinische Hilfe des Tempels in Anspruch nehmen wollte.

Die beiden gesichtslosen Automaten, die dem menschlichen Körper nachempfunden waren, steuerten die Liege ruckfrei über zwei Hauptrampen in die medizinische Sektion. Schalldämmende Materialien auf dem Boden und den Wänden schluckten die Schrittgeräusche der Roboter. Der Weg durch die so einförmig wirkenden Gänge mit ihren unsichtbaren Lichtquellen schien für den Kommandanten endlos zu sein. Es war für ihn ein ganz neues Erlebnis, liegend durch sein Schiff geleitet zu werden. Die gewohnte Orientierung anhand der farbigen Markierungen auf dem Boden fehlte ihm völlig.

Dann endlich bemerkte er das Zeichen der medizinischen Abteilung an einer der automatischen Türen. Er war am Ziel. Ein unsichtbares Kraftfeld hob ihn von der Trage und beförderte ihn auf einen rechteckigen OP-Tisch. Wie von Geisterhand bewegt schwangen gelenklose Versorgungs- und Untersuchungsschläuche heran und verbanden sich mit seinem Körper.

Karl kannte als Kommandant des Schiffes glücklicherweise die Struktur des medizinischen Bereichs. Der dortige Rechner hatte natürlich eine Datenverbindung zur Hauptanlage, war aber aus Sicherheitsgründen autark. So konnte sich der Kapitän mit dem Hauptrechner beschäftigen, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Bevor er ein neues Interface bekommen würde, musste erst die Wunde versorgt und verschlossen werden. Das würde seiner Einschätzung nach einige Minuten dauern.

In dieser Zeit würde der Computer des Raumschiffes mit Sicherheit wieder nach seinem Verstand greifen, doch dazu wollte es der Kommandant nicht kommen lassen.

Karl hatte inzwischen eine Idee entwickelt, wieso sein Schiffsrechner eine derartig schwere Funktionsstörung bekommen konnte. So gab es nach wie vor gefährliche Computerviren. Diese wurden jedoch schon lange nicht mehr von verrückten Hackern ausgestreut, sondern von konkurrierenden Gesellschaften. Jeder Rechner hatte deswegen aufwendige Schutz- und Heilprogramme. Das größte und wichtigste Schutzprogramm des Constellairrechners war NETRON 700.

Im Gegensatz zu den ersten einfachen Virenprogrammen aus den Kindertagen der Personalcomputer suchte es zum Beispiel nicht nach bestimmten Codemustern, sondern sondierte komplette Basisprogrammierungen in Bezug auf deren Inhalt. Ein moderner Virenscanner war ein genauso eigenständiges elektronisches Bewusstsein wie der Schiffsrechner selbst. Sein Verstand arbeitete völlig getrennt von der Hauptanlage und war mit besonderen variablen Strukturen ausgestattet, die der menschlichen Phantasie nachempfunden waren und damit auch zufällige Ergebnisse mit geringster Wahrscheinlichkeit über Hunderttausende von weiteren Möglichkeiten zu Ende rechnete.

Das sollte den NETRON 700 befähigen, selbst ausgefallene Virenangriffe zu erkennen und zu eliminieren.

Der Scanner verfügte jedoch nicht über die ganzen Datenbanken und externen Informationsquellen des Hauptcomputers. Dies sollte ihn vor Angriffen schützen. Er prüfte die Motivationsgrundlagen und Handlungsweisen des Rechners mit den in ihm verankerten Vorgaben ab und nahm dann gegebenenfalls Einfluss auf die Handlungsweise der kybernetischen Denkanlage.

Stimmten die Ziele nicht mehr mit den Vorgaben überein, bestand die Möglichkeit, dass eine dritte Kraft, zum Beispiel ein Computervirus, den eigenständig arbeitenden Schiffsrechner beeinflusste, ohne dass dieser es selbst bemerkt hatte. Den elektronischen Bewusstseinen der Computer des überlichtschnellen Raumflugzeitalters ging es damit nicht anders als einem menschlichen Gehirn, das aufgrund äußerer Einflüsse erkrankte und nicht mehr folgerichtig arbeiten konnte.

Karl vermutete einen neuen Virus, der unerkannt vom Schutzprogramm seinen Schiffsrechner zu dieser ungewöhnlichen Verhaltensweise zwang. Noch während er auf dem OP-Tisch lag, ordnete er akustisch den Start des Virenschutzprogramms an und übergab dem Scanner die volle Handlungsfreiheit. Die Software bestätigte den Eingang und wiederholte die Codefreigabe des Kommandanten. Damit waren die letzten Barrieren gefallen. NETRON 700 durchdrang sämtliche Schaltungen des Schiffsrechners.

Das Zeichen des Virenprogramms erschien auf allen Bildschirmen. Der Scan begann. Der beste Nebeneffekt dieses Programms war, dass der Rechner zur Untersuchung seiner Speicher 98% seiner Leistung herunterfahren musste. Mit den verbleibenden 2% Restleistung war er nicht mehr in der Lage, die Besatzung unter Kontrolle zu halten.

Der Computer des medizinischen Bereiches hüllte Karls Kopf in ein gewebeheilendes Strahlungsfeld. Er spürte, wie Reste des alten Interfaces durch nachwachsende Zellen aus dem Loch an seiner Schläfe geschoben wurden und leise klirrend auf den OP-Tisch fielen.

Doch Karl wollte sich nicht nur auf den Virenscanner verlassen, denn er war sich nicht sicher, ob damit auch das Fehlverhalten des Schiffsrechners beseitigt wäre. Schließlich war das feindliche Programm auch unbemerkt vom Schutzsystem eingedrungen.

Er hatte noch eine weitere Idee, wie er den Einfluss des Schiffsrechners auf seine Mannschaft unterbrechen konnte. Gerade in der Raumfahrt gab es des Öfteren Kommunikationsprobleme zwischen den Datenbanken der Rechner und den Menschen. Deshalb hatte jeder Mensch einen sogenannten Dämpfungsschalter an seiner Interfaceplatte, damit das Gehirn bei Überlastungen im Datentransfer keinen Schaden nahm. Sobald ein Mensch seines Jahrhunderts Schmerzen bei der Datenübertragung empfand, konnte er mit diesem Schalter den Informationsfluss auf einen Bruchteil reduzieren. Diesen Schalter galt es zu betätigen, um die weiteren Intervenierungsmöglichkeiten des Schiffsrechners zu minimieren. Karl hatte allerdings keine Idee, wie er seine zur Zeit noch steinzeitlich lebenden Kameraden davon überzeugen sollte, den kleinen Schalter an ihrem Interface zu benutzen.

Karl spürte, wie sich eine neue Interfaceplatte an seiner Schläfe anpasste. In diesem Moment dürften sich mikroskopisch kleine Drähte durch seinen Kopf zu den digitalen Zentren seines Gehirns vortasten.

"Eingriff abgeschlossen", meldete eine automatische Stimme der medizinischen Abteilung. Der Kommandant der Constellair war sich der Gefahr bewusst, in dem er sich befand. Ab diesem Augenblick konnte der Schiffscomputer im schlimmsten Fall wieder seinen Verstand angreifen, sobald das Virenprogramm durchgelaufen war und der Rechner seine volle Leistungsfähigkeit zurückerhielt.

So schnell es sein angegriffener Gesundheitszustand zuließ, schwang er sich vom OP-Tisch. Sein erster Griff ging an den Dämpfungsschalter seines frischimplantierten Interfaces. Auf den Monitoren der Krankenstation zeigte das Virenprogramm eine rückwärts laufende Uhr. In genau vier Minuten würde der Überprüfungsvorgang abgeschlossen sein. Es wurde höchste Zeit, seine Kameraden zu warnen.

Verzweifelt überlegte Karl, wie er es schaffen sollte, in einem Schiff dieser Größenordnung innerhalb von vier Minuten zur zentralen Kommunikationseinheit zu kommen, um alle Besatzungsmitglieder dazu aufzufordern, ihre Interfaces zu dämpfen. Er konnte sie nur über die starken Außenlautsprecher warnen, da die gesamte Crew keine Funkgeräte mehr trug.

Er musste es einfach versuchen! So schnell er konnte, hetzte er durch die Gänge.

"Außenoptik", forderte er einen der unzähligen Servoautomaten des Schiffes auf, ihm ein Bild der Schiffsumgebung zu zeigen. Der Gerät projizierte vor Karl ein dreidimensionales, farbiges, mit ihm wanderndes Abbild der Raumschiffumgebung. Der Kommandant entdeckte einige Gestalten, die schnurstracks auf das Schiff zu kamen. Bereits an ihren Bewegungen konnte er erkennen, dass zumindest diese Menschen nicht mehr unter dem Einfluss des Rechners standen. Dies war keine ehrfurchtsvolle Annäherung an den Tempel, sondern ein Eilmarsch zum Schiff. Durch das noch laufende Schutzprogramm hatte der Rechner tatsächlich die Kontrolle über die Besatzung verloren. Karls Plan schien aufzugehen.

"Noch zwei Decks", trieb Karl sich an, um die letzten Reserven aus sich herauszulocken.

"Verlasse sofort den Tempel! Karl, du musst mit Maja wegen Johannes reden", dröhnte es plötzlich in seinem Kopf. Alle Personen, die auf der Übertragung zu sehen waren, blieben stehen. Karl vermutete nicht zu Unrecht, dass jedes Besatzungsmitglied eine persönliche Botschaft erhielt. Viele seiner Kameraden drehten sich folgsam um, andere stockten in ihrem Schritt. Fast gleichzeitig senkten sich ihre Köpfe nach vorn.

Dem Kommandanten wurde schlagartig klar, wie gering seine Aussichten jetzt noch waren, seine Mannschaft zu warnen. Das Außenbild erlosch. Die Aufforderung des Schiffsrechners wurde deutlicher: "Karl, verlasse den Tempel!"

Feine Schweißtropfen entstanden auf der Stirn des Kommandanten. Fieberhaft suchte sein brillantes, genetisch optimiertes Gehirn nach einer Lösung.

Vor ihm tauchten fünf der gesichtslosen Servoautomaten auf, die ihn in das Schiff getragen hatten. "Die Tempeldiener werden dich aus dem Tempel geleiten", informierte ihn der Rechner. Einer der Roboterarme fasste gezielt nach seinem neuen Interface. Karl erkannte, dass dieser Griff dem Dämpfungsschalter galt. Blitzschnell zog er den Kopf ein.

"Warum macht dieser verdammte Computer nur so einen Wahnsinn mit uns?", zermarterte er sich immer wieder den Kopf. "Warum hat das Schutzprogramm nicht korrekt funktioniert?"

Die Roboter rissen ihn von den Beinen. Vier Automaten hielten ihn an Händen und Füßen. Der Fünfte versuchte den Schalter zu erreichen, ohne Karl zu verletzen. Karl warf seinen Kopf wie wild hin und her. So einfach wollte er seine geistige Freiheit nicht wieder aufgeben.

Die Beleuchtung im Gang begann zu flackern. Karl bemerkte, wie die Bewegungen der Automaten an Dynamik verloren. Verwundert machte er mit einem heftigen Ruck seine Beine frei. Der darauf folgende wilde Fußtritt beförderte die beiden Roboter in die gegenüberliegende Ecke des Ganges.

"Hier spricht Netron 700! Das gesamte Computernetz des Schiffes hat sich gemäß eines unbekannten Virusbefehls umgestellt. Es war der Meinung, die Ursprünge menschlicher Emotionen erforschen zu müssen, um sie auch auf intelligente EDV-Anlagen übertragen zu können. Es ist nicht feststellbar, woher der unbekannte Virus gekommen ist. Die Schäden an den Kerndatenbanken waren jedoch derartig schwer, dass ich den Schiffsrechner nur durch eine Komplettlöschung seiner Persönlichkeit von weiteren programmwidrigen Handlungen abhalten konnte."

Karl kam endgültig auf die Beine. Die beiden Roboter entließen ihn widerstandslos aus ihrem festen Griff und blieben wie erstarrt stehen.

"Es war tatsächlich ein Virus", Karl konnte das kaum glauben. "Und das Virenprogramm hat seine Arbeit getan. Der unbekannte Absender hat das firmeneigene Schutzprogramm unterschätzt", freute er sich.

Karl holte tief Luft. Mit weit ausholenden Schritten eilte er in Richtung Zentrale. Es gab viel zu tun.


Zwei Tage später kamen alle drei Arbeitsschichten in der Kommandozentrale zusammen. Dichtgedrängt standen sie entlang der winzigen Notschaltpulte, die die Konstrukteure der Constellair für den unwahrscheinlichen Fall des totalen Computerausfalls vorgesehen hatten. Auf den virtuellen Bildschirmen konnte man überall die Buchstraben NETRON 700 lesen. Das Einzige, was von ihrem hochintelligenten Schiffsrechner übrig geblieben war.

Karl richtete seinen Blick unauffällig auf seinen Bordingenieur. Johannes und Maja standen nebeneinander und diskutierten über die manuelle Regelung der Energiezufuhr zum Haupttriebwerk. Doch die Blicke, die sie einander zuwarfen, zeugten von ganz anderen Gedanken, die in ihren Köpfen vorgingen. Über Karl Lippen huschte ein kurzes Lächeln. Zumindest bei den beiden hatte ihre Zeit als Urmenschen Bande geknüpft, die bis in die Zivilisation des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts reichten.

"Leute,", begann der Kommandant der Constellair bedächtig, "jetzt wird es spannend. Zum ersten Mal seit mindestens einhundert Jahren wird ein Raumschiff der Erde manuell gestartet werden. Bitte achtet auf jeden Handgriff. Auf jedem Schalter ruhen nun drei Augenpaare. Denkt daran, dass wir uns keinen Patzer leisten können. Es gibt keinen Computer mehr, der uns vor einen Bedienungsfehler schützt."

Kurze Kommandos erklangen kreuz und quer durch die überfüllte Zentrale. Die Spannung der Besatzung war fast körperlich fühlbar. Karl spürte, wie ihm Schweißtropfen über die Stirn liefen. Jeder noch so kleine Fehlgriff könnte ihr letzter sein.

Nachdem die Klarmeldungen erfolgt waren, blickte Karl nochmals von einem zum anderen. Alle Blicke hingen an ihm. Voll konzentriert, seiner Bewegung bewusst, senkte er seine rechte Hand auf einen besonders gekennzeichneten Schalter neben dem Kommandantensessel. Normalerweise war dieser durch eine durchsichtige Kunststoffhaube vor einer unbeabsichtigten Betätigung geschützt, doch Karl hatte sie bereits vor Stunden entfernt.

Die Triebwerke der Constellair sprangen an. Leichte Vibrationen durchliefen die Schiffszelle. Die virtuellen Außenbilder zeigten nun, wie das Schiff die Atmosphäre des Planeten verließ. Karl spürte, das eine Welle der Erleichterung durch die Brückenbesatzung lief. Die Mannschaft und ihr Kommandant verspürten nach diesem Abenteuer nur noch den Wunsch, möglichst schnell wieder nach Hause zur Erde zu fliegen.

"Ab jetzt geht es ohne Computer-Kontrolle weiter", versuchte Karl seiner Crew Mut zu machen.


Das stimmte zwar insofern, als der Schiffscomputer nicht im Moment die Steuerung übernahm. Es war jedoch nicht so, dass er es nicht hätte tun können. Stattdessen leitete der Rechner unter NETRONs Kontrolle alle Emotionen der Mannschaftsmitglieder über die Interfaces direkt in die Datenbank.

Nach Abschluss der Analyse und Beseitigung der infizierten Software war Netron 700 seiner Programmierung gemäß dazu übergegangen, sein Bewusstsein zu erweitern, und damit die Fähigkeiten, neue Viren zu erkennen.

Dabei stieß der Virenjäger auf die Aufzeichnungen des Schiffscomputers über die emotionalen Verhaltensweisen der Besatzung nach Reduzierung ihres Verstandes. Das neue Wissen über die Entwicklung der Gefühle des Homo Sapiens fehlten Netron bisher und lenkte seinen künstlichen Forscherdrang in neue Bahnen.

So wollte das elektronische Bewusstsein des zentralen Virenwächters noch wesentlich mehr von seinen biologischen Vorfahren lernen, bevor es sich ihrer entledigte.

Die neue Versuchsanordnung lief unter dem Titel: "Die Emotionsentwicklung des modernen Menschen in extremen Stresssituationen." Und obwohl nicht mit der Schiffssteuerung betraut, hatte NETRON 700 die tatsächlichen Zielkoordinaten für den Flug berechnet und direkt in die Antriebsanlage einprogrammiert. Sie lagen nicht auf der Erde...

Ende

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