Kurzgeschichten

Mirakelmaschine

von Bodo Kroll

Es war einer dieser ekligen Novembermorgen. Alexander Buck schlug den ausgebleichten Kragen seiner C&A-Jacke hoch und zog seine schmuddelbraune Schirmmütze tiefer ins Gesicht. "Typisch, dass das Wetter am Freitag schlecht werden muss. Er geht ja auch auf das Wochenende zu", überlegte er missmutig.

Trübsinnig blickte er hinunter auf den schmalen Trampelpfad, der ihn zu seiner Arbeitsstelle führte. Knöchelhohes Gras verdeckte seine schwarzen Arbeitsschuhe und stieß gegen seine geliebte graue Grobcordhose. Der Tau, der auf den Grashalmen lag, durchnässte den Saum. Seine Frau wollte sie schon mehrfach in die Altkleidersammlung geben, doch bisher hatte Alexander seine Lieblingshose jedes Mal wieder herausgefischt.

Dicke Nebelschwaden zogen den Deich hinauf. Die Nässe des Nebels schien seine Kleidung in einen Schwamm zu verwandeln. Alexander spürte, wie seine Hosenbeine klamm und kalt wurden.

Eigentlich müsste er ja dankbar sein, überlegte er kurz. Seit dreiundzwanzig Jahren überwachte er im Schichtdienst diese Pumpstation des Entwässerungsverbandes. In all diesen Jahren war er da, wenn der Wasserpegel im Innendeichbereich so hoch stieg, dass die Gräben und Flüsse über ihre Ufer traten. Immer hatte er dafür gesorgt, dass das aufwendige Pumpensystem störungsfrei arbeitete.

Damit sollte es nun im nächsten Sommer vorbei sein.

Ein Computerteam ließ bereits ein elektronisch gesteuertes Sensorsystem mitlaufen, das seine Aufgabe übernehmen würde. Dann brauchte nur noch im Ernstfall jemand in die Pumpstation kommen.

Alexander hob den Blick. Der Trampelpfad, der auf der Krone des Außendeichs verlief, verband den Parkplatz mit seinem Pumpenhäuschen.

Normalerweise konnte er seinen Arbeitsplatz bereits nach fünfminütigem Fußmarsch als kleinen Punkt hinter der Deichkrone ausmachen. Heute verhinderte der immer dicker werdende Nebel jeden Blick. Alexander sah kaum noch den Deichfuß. Immer dichtere Schwaden zogen von See her.

In Gedanken versunken hob er einen Moment den Blick. Dort im undurchsichtigen Nebel tasteten sich auch heute die großen Frachter und Tankschiffe in die Elbmündung, geführt von ihrem Radar und einem nervösen Steuermann, dessen Blickfeld an der Scheibe seines Kommandostandes endete.

Alexander lächelte einen Moment bei der Vorstellung, jetzt selbst am Ruder eines so großen Potts zu stehen.

"Nein,", überlegte er, "in meinem Pumpenhäuschen mit Teeküche, Radio und einem guten Rätselheft lässt es sich entschieden besser aushalten."

Der Nebel wurde immer dichter. Alexanders Gleichgewichtssinn meldete sich. Hier oben auf der Deichkrone, fehlte seinen Augen jeglicher Bezugspunkt. Angestrengt versuchte er den Nebel mit seinem Blick zu durchdringen.

Alexander schrak plötzlich zusammen, als ob ihn der Blitz getroffen hätte. Das war nicht mehr der Deich mehr unter seinen Sohlen. Der weiche Boden war schlagartig knochenhart geworden. Sein Blick glitt nach unten, doch er konnte noch nicht einmal seine Füße sehen.

Vorsichtig, um Balance bemüht, hockte er sich hin und tauchte die Hand in den Nebel. Da war kein Gras! Alexander fühlte nur eine glatte, kalte Fläche. Beide Arme vorgestreckt, tastete er sich, Schritt für Schritt, in die Nebelwand vor.

"Irgendwo muss ich doch was sehen können", hämmerte immer nur der eine Gedanke in seinem Kopf, aber der Nebel blieb undurchdringlich.

Im letzten Moment konnte er einen dunklen Schatten vor sich ausmachen. Seine Hände berührten ein fußballgroßes rundes Etwas. Der Nebel zog sich zurück. Alexander erkannte jetzt eine Kugel, die auf einem Podest lag. Die Kugel war durchsichtig. Ein wildes Gewirr von bunten, dichtgedrängten Röhren füllte das Innere. Neugierig geworden ließ er seine Hände über die Kugel gleiten. "Wo bin ich bloß?" irrten seine Gedanken von seiner Entdeckung ab. Hier auf der Deichkrone konnte sich weder ein metallartiger Fußboden noch ein Podest mit einer exotisch wirkenden Kugel befinden.

Wie aus großer Entfernung vernahm er plötzlich Stimmen. Alexander versuchte sich darauf zu konzentrieren. Die Stimmen schienen lauter zu werden, doch er konnte sie immer noch nicht verstehen. Seine Hände ließen die Kugel los. Angestrengt blickte er in die Richtung, aus der er die Stimmen zu hören glaubte. Eine der Stimmen wurde jetzt lauter. Es handelte sich um eine volle, bassige Männerstimme.

"Hallo Alexander", klang es durch die Nebelwand.

Wieder schrak der Schleusenwärter zusammen. Hier draußen war sonst nie jemand. Wer sollte auf dem Deich seinen Namen rufen?

”Fass' die Mirakel-Maschine an und wünsch' Dir was”, hörte er erneut den unbekannten Sprecher.

"Die Mirakel-Maschine,", überlegte Alexander, "das kann eigentlich nur die ominöse Kugel auf dem Sockel sein. Besonders beängstigend sieht sie nicht aus."

Mit einem Schulterzucken legte Alexander seine Hände erneut an den seltsamen Ball.

"Was wünscht Du Dir?", hörte er jetzt eine weibliche Stimme. Entsetzt zog er die Hände zurück. Die Kugel hat gesprochen, ja, sie hat zu ihm gesprochen! Immer wieder musste Alexander diesen Satz denken. Wo war er eigentlich, wieso war die Kugel hier, warum konnte sie sprechen?

Er drehte sich um und begann sich in entgegengesetzter Richtung vorzutasten. Alexander wollte weg, er wollte raus aus dem Nebel. Am besten gleich zu seinem Auto. Weiß der Teufel, was für ein hier Spuk stattfand. Angst stieg in ihm auf, als er an die Schauermärchen der alten Seemänner aus seiner Stammtischrunde dachte. Früher konnte er über diese Geschichten lachen, jetzt war ihm nicht mehr danach zumute.

Der Schleusenwärter spürte, wie der Boden unter ihm wegsackte. Für einen Sekundenbruchteil fiel er ins Bodenlose, um von dem Sitz in seinem Wagen aufgefangen zu werden.

Verwirrt schaute er sich um. Er saß tatsächlich in seinem Auto. Es stand, genau wie jeden Tag, auf dem Parkplatz am Deichfuß.

Alexander fasste sich an den Kopf. War er krank? Hatte er Wahnvorstellungen. War er womöglich noch gar nicht ausgestiegen?

”Hallo Alexander, wie lautet dein nächster Wunsch?”, hörte er auf einmal eine Stimme neben sich. Irritiert blickte er zur Seite. Die Mirakel-Maschine lag auf dem Beifahrersitz.

”Was bist du?”, fragte Alexander die Kugel. Er wollte erst einmal Zeit gewinnen, um seine durcheinander geratenen Gedanken zu ordnen.

”Ich bin die Mirakel-Maschine”, antwortete die seltsame Frauenstimme. "Exer, der Reisende zwischen den Sterneninseln hat mich gebaut, damit ich dir deine Wünsche erfülle."

"Wer ist denn dieser Exer?", wollte Alexander wissen.

"Weitere Informationen werden dir zu gegebener Zeit erteilt”, erhielt er eine orakelhafte Antwort. ”Doch was ist dein nächster Wunsch?"

Der Schleusenwärter überlegte. Er traute dieser seltsamen Angelegenheit nicht. ”Was kann ich mir denn überhaupt alles wünschen?”, fragte er unsicher.

"Alles, was physikalisch machbar ist, kann ich für dich bewerkstelligen. Teste mich einfach", erklärte die Kugel.

"Und warum habe ausgerechnet ich Dich erhalten?", hakte der Schleusenwärter nach. Bevor er sich etwas Neues wünschte, wollte er erst einmal mehr Informationen haben.

"Weil du der erste Mensch warst, der hier allein war. Exer wollte nicht in die irdischen Medien. Von denen hat er auf seinem Anflug bereits genug gesehen", schloss die Frauenstimme.

"Und Exer will nun wissen, was ich mit dir so alles anstellen werde", vermutete Alexander. "Und wenn ich jetzt kein Versuchskaninchen für deinen Exer abgeben möchte, was dann?"

"Dann wird er sich an einen anderen Menschen wenden”, antwortete die Kugel. ”Doch dann bist du die Chance deines Lebens los!"

"Warum sollte ich die Mirakel-Maschine nicht einfach ausprobieren?", überlegte er. "Ein Versuch kann ja nicht schaden."

"Einverstanden", ging er auf den Vorschlag der Maschine ein. "Ich bin leider nicht mehr ganz gesund”, begann er zögernd. ”Besonders mit meinem Rücken habe ich Probleme. Ich wünsche mit, dass du meinen Körper komplett heilst und alle Gebrechen beseitigst."

"Kein Problem", antwortete die Kugel. ”Ich werde deine DNS-Strukturen analysieren und anschließend deinen Körper in seinen ursprünglich vorgesehenen Zustand versetzen. Ich muss mich dazu jedoch zerlegen. Nur deinen ersten Wunsch konnte ich ohne eine Neuanordnung meiner Einzelteile erfüllen. Bitte setz mich hinterher wieder zusammen.”

Alexander stutzte. "Wie soll ich eine solch ungewöhnliche Maschine wie du es bist wieder zusammensetzen können?", er schüttelte unwillkürlich den Kopf. "Ich wusste doch, dass die Sache einen Haken hat."

"Zusammensetzen musst du mich nur, wenn du weitere Wünsche hast", erläuterte die Mirakel-Maschine. "Ich verändere mich, um ein Apparat zu werden, dere deinen Wunsch erfüllen kann. Ich bin dann erst erneut die Mirakel-Maschine, wenn du die einzelnen Segmente wieder zusammengefügt hast."

Der Schleusenwärter zuckte mit den Schultern. Die ganze Angelegenheit kam ihm sowieso vollkommen verrückt vor. Er saß hier in seinem Wagen, obwohl er schon längst in seinem Pumpenhäuschen sein sollte und unterhielt sich mit einer sprechenden Plexiglaskugel, die angeblich von einem Alien gesandt worden war.

Die Mirakel-Maschine hob sich, wie von einer unsichtbaren Hand getragen, vom Beifahrersitz. Dann zerfiel sie in ein rundes Dutzend Teile, die sich neu zu einer anderen Einheit gruppierten. Einen Herzschlag später schwebte ein Wirrwarr von Röhren und Scheiben neben ihm. Das Gerät leuchtete in einem fahlen gelben Licht.

Alexander hatte für einen Moment den Eindruck, als ob er selbst in diesem Licht zu leuchten begänne. Dann war alles vorbei. Mit einem leisen Scheppern fielen die Teile haltlos zurück auf den Beifahrersitz.

Neugierig bewegte sich der Schleusenwärter. Dann fiel ihm sein Knie ein. Als kleiner Junge hatte er einmal eine tiefe Wunde bis auf die Kniescheibe gehabt. Seitdem zierte eine hässliche Narbe sein Bein.

Eilig krempelte er seine Cordhose hoch. Die Mirakel-Maschine hatte tatsächlich Recht gehabt. Die Narbe war weg.

Alexanders Blick fiel auf die Teile des Apparats. Er hatte jetzt in seinem Schleusenhäuschen genug Zeit, um die Stücke wieder zusammenzusetzen. Fast in Gedanken nahm er eine Jutetasche aus dem Handschuhfach und packte die Einzelteile hinein. Er war neugierig, was das Gerät ihm noch an Wünschen erfüllen konnte.


Das Zusammensetzen der Maschine war tatsächlich kein großes Problem. Alexander hatte hier mit dem alten Pumpensystem schon größere Aufgaben zu lösen gehabt.

Als er das letzte Segment der Außenhaut einfügte, meldete sich die Stimme erneut: "Bist du zufrieden?", erkundigte sich die Frauenstimme.

"Ja,", antwortete der Schleusenwärter, "sehr zufrieden. Meine Rückenschmerzen sind komplett verschwunden. Mein Bauchansatz ist weg. Stattdessen habe ich den Eindruck, dass ich mehr Muskeln bekommen habe. Ich fühle mich wieder richtig jung!"

"Ich habe deinen Körper deinen Anlagen nach neu strukturiert und optimiert."

Kann ich mir noch mehr wünschen?" wollte Alexander mit einem leichten Zittern in der Stimme wissen. Er hatte während des Zusammenbauens bereits neue Ideen entwickelt.

"Soweit es mir möglich ist, werde ich deine Bitten weiterhin erfüllen", antwortete die Maschine.

"Dann wünsche ich mir ein Vermögen, ein großes Auto, ein großes Anwesen...", begann der Schleusenwärter mit einem seltsamen Glanz in den Augen.

"Das sind Wünsche, die nicht so einfach zu realisieren sind, ohne aufzufallen", unterbrach ihn die Mirakel-Maschine. "Bedenke, dass du in deiner Welt lebst. Wenn du schlagartig mit einem luxuriösen Auto fährst, dürfte das ein großes Aufsehen geben. Ich schlage dir deshalb vor, dass du bei einem irdischen Glücksspiel mitmachst. Ich werde dafür sorgen, dass du gewinnst. Wenn du dann offiziell über die Geldmittel verfügst, kannst du dir kaufen, was du willst."

Diese Erklärung kam dem Schleusenwärter plausibel vor. Er schalt sich einen Narren, dass er nicht von selbst darauf gekommen war. Natürlich konnte er nicht in Deutschland auf einmal mit Millionen um sich werfen, ohne den Nachweis für die Herkunft des Geldes zu haben. Diese Mirakel-Maschine erfüllte nicht nur Wünsche, sie dachte auch noch mit. Alexanders Hochachtung vor dem Erfinder des Wundergerätes wuchs.

"Ich werde am morgigen Sonnabend bei der großen Lotto-Ziehung mitmachen", nahm er den Vorschlag der Maschine auf. "Wenn ich dir meine Zahlen nenne, die ich immer tippe, kannst du mich gewinnen lassen."

"Die Zahlen habe ich schon aus deiner Erinnerung genommen", klärte ihn die Mirakel-Maschine auf. "Das Ziehungsgerät wird deine Wünsche erfüllen."


Alexander hatte seiner Familie nichts von seinem Erlebnis erzählt. Als es Zeit für die Lottozahlen wurde, gab er zu Hause an, noch ein wenig spazieren gehen zu wollen. Die Jutetasche mit der Mirakel-Maschine nahm er sicherheitshalber mit.

In einem kleinen Wäldchen hinter seinem Haus blieb er stehen. Sichernd blickte er sich nach allen Seiten um. Er hatte sich das kleine Transistorradio seines Sohnes geliehen, um das Ergebnis der Ziehung der Lottozahlen zu hören.

In zwanzig Minuten würde er wissen, ob die Maschine auch dieses Mal ein kleines Wunder vollbracht hätte. Doch Alexander hatte nicht bedacht, dass die eigentliche Ziehung früher stattfand. Auf einmal begann die Mirakel-Maschine zu summen. Ehe es sich der Schleusenwärter versah, schwebte sie aus der Jutetasche, teilte sich erneut in ein rundes Dutzend Teile und gruppierte sich neu. Dieses Mal hüllte sich das Aggregat in ein bläuliches Leuchten.

Dann erlosch das blaue Licht und die Maschine zersprang in ihre Bestandteile.

Alexander begann zu fluchen. Wie sollte er hier im dunklen Wald die ganzen Teile wieder zusammenfinden? Mühselig tastete er das spärliche Grün entlang des Waldweges ab und legte die gefundenen Teile in die Jutetasche zurück. Dann hörte er die Nachrichten im Radio. Gespannt wartete er die letzten Meldungen ab. Jetzt war es soweit. Die Lottozahlen wurden bekannt gegeben.

Wie erwartet lag er dieses Mal mit seinen Zahlen genau richtig. Alexander schmunzelte bei dem Gedanken, was jetzt zu Hause los sein würde. Seine Frau kannte seine Zahlen. Wahrscheinlich würde sie nach dem ersten Schock seinen Sohn losscheuchen, um ihn zu suchen. Fröhlich pfeifend, als ob er von nichts wüsste, machte sich der Schleusenwärter auf den Heimweg.

Sollte sein Chef ihn doch durch einen Computer ersetzen. Er brauchte jetzt keinen Job mehr.


Am Montagmorgen erkundigte sich Alexander bei seiner Lottoannahmestelle. Dort informierte man ihn darüber, dass er erst sicher sein könne, wenn er von der Lottoanstalt eine Gewinnbenachrichtigung erhalten hätte.

Also ging er trotz der Proteste seiner Frau und seines Sohnes, am Montag wie üblich zur Arbeit. In seinem Schleusenhäuschen angekommen, schüttete er die Teile der Mirakel-Maschine auf den Tisch.

Innerhalb weniger Minuten hatte er die Kugel wieder zusammengesetzt. Alexander stutzte bei den letzten Bausteinen. Er hatte die Teile beim ersten Mal nicht gezählt, doch er hatte den Eindruck, dass ein kleines Röhrensegment fehlte. Hatte er es im Wald übersehen?

Mit gemischten Gefühlen passte er das letzte Teil ein.

"Hallo Alexander, was ist dein nächster Wunsch?", meldete sich die Mirakel-Maschine.

Erleichtert atmete der Schleusenwärter auf. Das Wunderding funktionierte noch. Das war erst einmal das Wichtigste. Ja, er hatte sich schon weitere Wünsche zurechtgelegt.

"Ich möchte,", begann er ganz bedächtig, "dass mich alle Menschen mögen", brachte er einen seiner Herzenswünsche heraus.

"Das ist ein unerfüllbarer Wunsch", antwortete die Mirakel- Maschine.

Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Schleusenwärters breit. "Warum?", fragte er.

"Menschen mögen Menschen aus den verschiedensten Gründen. Auf der Erde leben zur Zeit rund sechs Milliarden davon. Die Wenigsten kennen dich. Wie soll ich es anstellen, dass dich Menschen mögen, die dich gar nicht kennen? Das ist unlogisch!"

Die Argumentation leuchtete Alexander ein. Er dachte bereits an einen weiteren Wunsch, den er sich schon immer erträumt hatte.

"Ich möchte die Gedanken von anderen Menschen lesen können", platzte es aus ihm heraus.

"Das ist kein Problem", antwortete die Kugel. "Dazu muss ich nur einige geringfügige Veränderungen in deinem Gehirn vornehmen."

Wieder schwebte die Mirakel-Maschine in die Höhe, gestaltete sich um und zerfiel anschließend in ihre Bestandteile.

Alexander fühlte nicht anders als noch vor einer Minute, doch es waren auch keine Menschen in der Nähe, deren Gedanken er hätte lesen können. Routiniert setzte er die Maschine wieder zusammen. Um 15.00 Uhr hatte er Feierabend. Dann würde er nach Hause gehen und wahrscheinlich den Brief der Lottogesellschaft vorfinden. Nervös blickte er auf seine Uhr. Die Zeit schien heute gar nicht vergehen zu wollen.


Kurz nach 15.00 Uhr verließ er das Pumpenhäuschen. Irgendwie kam er sich lahm vor. Er wollte schneller gehen, doch etwas bremste ihn. Alexander schrieb es der Neugier zu. Ein Blick zur Uhr belehrte ihn darüber, dass er für den Rückweg über die Deichkrone zum Parkplatz sogar weniger Zeit gebraucht hatte als sonst.

Zu Hause empfing er die ersten Gedanken bereits, als er den Wagen in der Garage abstellte. Sein Frau dachte an ihn.

Alexander musste lächeln, als er sich das Empfangskomitee vorstellte, das ihn überraschen sollte. Er bemühte sich, möglichst erstaunt zu tun, als er die Haustür öffnete.

"Herzlich willkommen, Herr Multimillionär", schallte es ihm entgegen. Seine ganze Familie war da, um ihm zu gratulieren. Seine Frau präsentierte ihm den geöffneten Brief der Lottoanstalt. Die Zahl 24,3 Millionen Euro war fett gedruckt. Alexander hatte Probleme, all die Gedanken und Wünsche, die den Anwesenden durch den Kopf gingen, zu sortieren.

"Was könnten Peter und ich mit dem Geld anfangen?", plötzlich war der Satz in seinem Bewusstein. Verwirrt versuchte Alexander den Ursprung herauszufinden. Auch hierbei half ihm seine neue Gabe. Er konnte den Gedanken bis zu seiner Frau zurückverfolgen.

"Wer zum Teufel noch ein Mal ist Peter?", schoss es ihm durch den Kopf, doch seine Frau dachte jetzt nur noch an die Party, die sie vorbereitet hatte.

Ein hektischer Trubel begann um den Schleusenwärter. Schon klingelte es die Hausglocke und ein Blitzlichtgewitter erleuchtete den Flur, als er die Tür öffnete. Immer mehr verschiedene Gedanken stürmten auf ihn ein und belasteten ihn zusätzlich. Seine Frau und seine Schwester reichten vorbereitete Häppchen, sein Sohn schenkte Sekt aus und er schüttelte ununterbrochen Hände von Leuten, die er kaum kannte. Nachbarn, Arbeitskollegen, alle Leute des Städtchens schienen sich hier und heute verabredet zu haben.

Wie durch einen Wattebausch hindurch bahnte er sich einen Weg zur Toilette. Da er immer noch in Jacke und Arbeitsschuhen war, fiel keinem weiter die Jutetasche auf, die er mit der linken Hand fest umklammert hielt.


"Himmel und Hölle, das ist ja anstrengend", sprach er mehr zu sich selbst.

"Aber das war doch zu erwarten", antwortete ihm die Mirakel-Maschine. "Da musst du jetzt durch. Doch ich kann dir sagen, dass der ganze Trubel in einer Woche vorbei sein wird. Die Zeitung wird neue Themen finden und die Nachbarschaft wird sich beruhigen."

Alexander fiel wieder der Gedanke seiner Frau ein. "Wer ist Peter?", überlegte er laut.

"Das kannst du ganz leicht herausfinden", antwortete die Maschine. "Du brauchst dazu nur warten, bis deine Frau wieder an ihn denkt."

"Nein,", antwortete der Schleusenwärter, "ich weiß etwas Besseres. Ich wünsche mir die Fähigkeit, anderen Menschen meinen Willen als den ihren einzugeben. Dann werden alle Personen, von denen ich es will, genau das tun, was ich möchte. Und sie tun es aus freien Stücken, da sie ja das Gefühl haben, es von sich aus zu tun."

"Ein guter Gedanke", bestätigte die Mirakel-Maschine.

Ohne einen weiteren Kommentar hob sie ab, um sich neu zu gestalten. Wieder erschien das gelbe Licht und Alexander hatte den Eindruck, kurz selbst zu leuchten. Dann zerfiel die Maschine in ihre Bestandteile. Fast schon automatisch setzte Alexander sie wieder zusammen. Er war neugierig, wer dieser Peter war. Sein Frau würde den dringenden Wunsch verspüren, es ihm zu erzählen.


Alexander hatte plötzlich Schwierigkeiten zur Tür zu gelangen. Es war, als würde er durch Sirup waten.

Nach unendlichen Minuten, so kam es ihm vor, erreichte er endlich den Türdrücker. Wie in Zeitlupe drehte er sein Handgelenk, um auf seine Uhr zu schauen. Der Sekundenzeiger sprang in unendlicher Langsamkeit von Punkt zu Punkt.

"Hier stimmt doch etwas nicht", stellte Alexander verwundert fest.

Schon als er nach dem vorherigen Wunsch aus dem Schleusenhäuschen kam, hatte er den Eindruck, dass die Zeit nicht vergehen wollte. Wie ein Raumfahrer in der Schwerelosigkeit drehte er sich langsam um die eigene Achse und griff in die Jutetasche.

"Was ist hier los?", seine Zunge gehorchte ihm kaum noch. "Warum geht alles nur noch so langsam, oder werde ich jetzt endgültig verrückt?"

"Du wirst nicht verrückt", klärte ihn die Mirakel-Maschine auf. "Exer hat es so vorausgesehen."

"Also bin ich diesem Exer in die Falle gegangen!", schnaubte Alexander wütend.

"Nein, es ist keine Falle", widersprach die Mirakel-Maschine. "Es ist eine Aufgabe, die du zu lösen hast. Ich bin das Lockmittel und die Erde ist der Einsatz. Löse die Frage, nach dem Warum!"

"Die Frage interessiert mich nicht,", antwortete er barsch, "ich wünsche mir, dass die Zeit wieder normal wird."

"Ich werde den Wunsch erfüllen,", kam die prompte Antwort, "doch das Ergebnis wird dir nicht gefallen..."

Alexander fiel es wie Schuppen von den Augen. Jetzt verstand er alles. Es war keine Aufgabe, die er zu klären hatte. Der ganze Satz erinnerte ihn an etwas anderes. Dieser Exer hatte alles geplant.

"Ich widerrufe den letzten Wunsch", beeilte er sich zu sagen. "Jeder Wunsch verlangsamte die Zeit. Bevor mein letzter Wunsch erfüllt werden kann, dürfte die Zeit endgültig stehenbleiben und mein Geist wäre in einer bewegungslosen Welt gefangen."

"Genauso ist es", bestätigte die Maschine. "Es ist sogar so, dass sich die Zeit jetzt weiter verlangsamt. Jeder weitere Wunsch beschleunigt nur den Effekt."

Alexander ließ das Gerät in die Tasche zurückgleiten. Er wusste, war er zu tun hatte.

So schnell er konnte, öffnete er die Toilettentür. Wieder überfielen ihn die vielen Gratulanten. Ihre Worte dröhnten wie ein lautes, tiefes Raunen an seine Ohren. Alexander wünschte sich, dass ihn die Menschen durchlassen würden. Dank seiner neuen Fähigkeit wichen die Leute im Zeitlupentempo von ihm zurück. Ewigkeiten später war der Weg zur immer noch geöffneten Haustür frei. Bewaffnet mit seiner Jutetasche versuchte Alexander so schnell es ging um sein Haus zu laufen. Ein breitgetrampelter Pfad führte ihn aus seinem kleinen Garten.

Er wusste jetzt, was Exer im Schilde führte. Die Bezeichnung Aufgabe war irreführend, vielleicht sollte sie es sogar sein. Alles, was passierte, erinnerte ihn an etwas, was er zum Zeitvertreib gern in seiner Pumpstation machte.

Alexander rätselte für sein Leben gern.

Und all dies war nichts weiter als ein besonderes Rätsel, ein Rätsel, das er als leidenschaftlicher Rätsellöser gestellt bekommen hatte. Exer hatte vieles vorgegeben. Exers Tipp mit dem Lottoschein war so plausibel, dass Alexander garantiert darauf eingehen musste. Ebenso verstand er jetzt, warum die Mirakel-Maschine die Aufgabe war.

Der Schleusenwärter quälte sich den Waldpfad entlang. Während des Laufens beugte er sich weit vor. Normalerweise wäre er bei dieser Schräglage bereits lang hingefallen, doch die immer langsamer vergehende Zeit führte zu diesem seltsamen Effekt. Im Nachhinein beglückwünschte er sich noch dafür, seinen Körper generalüberholt zu haben. Dieser Monsterlauf verlangte ihm jedes Quäntchen Energie ab.

Sehr langsam und doch mit der größten Geschwindigkeit, die überhaupt noch für ihn möglich war, ließ er seine Hand in die Jutetasche gleiten. Die ballgroße Maschine lag in seiner rechten Hand. Seine Linke ließ die Jutetasche fallen. Er brauchte jetzt beide Hände.

Ohne hinzuschauen zerlegte er die Mirakel-Maschine, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Alexander wusste mittlerweile blind, welche Segmente er herausnehmen musste.

Dann sah er es! Direkt vor ihm, halb verdeckt unter grünem Klee lag der fehlende Baustein.

Alexander bemerkte, wie er immer langsamer vorankam. Exer wollte ihn nicht gewinnen lassen. Der Schleusenwärter federte sich mit aller Kraft, die er hatte, ab. Immer noch die Maschinenteile in den Händen begrub er seinem Gefühl nach Stunden später das verlorene Segment unter sich. Die wenigen Handgriffe, die er brauchte, um das Teil an seinen Platz zu bringen, schienen Jahre zu dauern. Direkt vor seinen Augen sah er ein vierblättriges Kleeblatt. "Hoffentlich bringt es mir Glück", sinnierte er vor sich hin, während seine Hände mechanisch weiterarbeiteten.

Dann war alles vorbei!

Alexander stand wieder im dichten Nebel. Vor ihm tauchte eine menschliche Gestalt in einer weißen Robe auf. Ein ebenmäßiger, haarloser Männerkopf schaute ihn an.

"Ich habe die Gestalt eurer Rasse angenommen, um dich nicht zu erschrecken", klärte ihn das Wesen auf.

"Du bist Exer, richtig?", fragte Alexander nach, obwohl er sich sicher war.

"Ja, ich bin Exer", bestätigte das Wesen. "Ich gratuliere dir, du hast im letzten Moment noch die richtigen Schlüsse gezogen."

"Warum wolltest du mich testen?", fragte Alexander, dem noch einige abschließende Informationen fehlten.

"Hierzu muss ich dir etwas erklären", begann Exer. "Meine Eltern waren im eigentlichen Sinne schon perfekte Wesen. Unsere Rasse hatte das Glück, sich mit als erste in diesem Universum zu entwickeln. Und meine Erzeuger machten mich noch perfekter, als sie es selbst waren."

"So bin ich absolut unsterblich. Ich lebe schon länger, als deine Sonne existiert. Ich habe alle Sterneninseln dieses Universums erforscht, alles gesehen und schon unendlich viele Male versucht, mein Darsein zu beenden. Es geht nicht. So habe ich nur ein letztes Vergnügen."

"Das Spiel!", platzte es aus Alexander heraus.

"Richtig", bestätigte das Alien. "Nur der Intellekt anderer Wesen kann mir noch das Unerwartete bringen, das mir die Existenz erträglicher macht."

Für Alexander schloss sich der Kreis. Exer hatte mit ihm gespielt. Er hatte ihm ein Rätsel gestellt. Die Maschine funktionierte korrekt, solange alle Teile beisammen waren. Deshalb führte Exer ihn in eine Situation, bei der ein Teil verloren gehen sollte.

Alexander hatte dann die Chance, in den Wald zurückzugehen, um das Teil zu suchen, oder in sein Verderben zu rennen, wenn er die Maschine weiterhin benutzte.

"Was willst du jetzt machen?", fragte er das Alien.

"Ich werde weiter zu den Sternen fliegen, Ausschau nach anderen Lebensformen halten, sie dann eingehend beobachten und mir für sie ein Rätsel ausdenken, das wieder beide Seiten fordert."

Eine plötzliche Angst griff nach Alexander "Und was ist mit mir?", hakte er nach.

"Was soll mit dir sein?", fragte Exer. "Ich habe den Zeitfluss deiner Welt wieder normalisiert. Du wirst gleich in deiner Pumpstation sitzen und dich deines interessanten Lebens freuen."

Alexander wusste nicht, ob das Alien ironisch sein wollte, doch der letzte Satz kam ihm sehr seltsam vor.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wurde ihm wieder für einen kurzen Moment schwindlig. Dann fand er sich vor seinem Tisch in der Pumpenstation wieder.

Die Mirakel-Maschine war natürlich nicht mehr da. Einer Eingebung folgend zog er das Hosenbein seiner Cordhose hoch.

Die Narbe war immer noch verschwunden.

"Sollte Exer...", kam ihm ein Verdacht. Doch das Klingeln des Telefons hinderte ihn daran, seinen Gedanken zu Ende zu bringen.

"Hallo Herr Buck, ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Gewinn. Ich habe es gerade in der Zeitung gelesen. Ich vermute einmal, das Sie mit 24,3 Millionen in der Tasche keinen großen Wert mehr auf Ihren Arbeitsplatz legen."

Alexander erkannte seinen Chef. Er las in seinen Gedanken, dass sein Chef sich erhoffte, die Abfindung zu sparen, die er Alexander nach dreiundzwanzig Arbeitsjahren hätte zahlen müssen, wenn er die Kündigung ausgesprochen hätte.

Der Schleusenwärter lächelte.

Nun verstand er den letzten Satz des Aliens. Er würde jetzt, mit all seinen Fähigkeiten, wirklich ein interessantes Leben führen.

Ende

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